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Andrea Donath, Vorsitzende der Deutschen Montessori-Gesellschaft und Leiterin des Kinderhaus der Freien Montessori Schule Berlin / Foto: Anne Manzek

„Jetzt ist die Zeit innezuhalten, sich am Kind zu erfreuen und ein neues Miteinander zu etablieren“ 

Viele Eltern sind jetzt rund um die Uhr mit ihren Kindern zuhause. Die meisten müssen nebenbei arbeiten. Während sich Schulkinder gut einige Zeit allein beschäftigen können, ist das mit Kindern unter sechs Jahren schwieriger. Wie man den Alltag mit jungen Kindern meistern kann und welche Inspirationen aus der Montessori-Pädagogik dabei helfen, verrät Andrea Donath im Interview. Sie ist die Vorsitzende der Deutschen Montessori Gesellschaft und leitet das Kinderhaus und die Kleinkindgemeinschaft der Freien Montessori Schule Berlin.

Text: Jana Pajonk

Liebe Andrea, auch das von Dir geleitete Kinderhaus hat seit 17. März geschlossen. Wie begleitet Ihr die Kinder nun?

Zu Beginn haben wir allen Familien einen Brief geschrieben, in dem wir ihnen Kraft wünschen und erklärt haben, wie wichtig ein regelmäßiger Rhythmus für die Kleinen ist. Dass dieser helfen kann, den Alltag zuhause zu strukturieren – und zwar der ganzen Familie. Dann haben wir von den Gruppen digitale Fotoalben erstellt und den Eltern per E-Mail geschickt. Auf jeder Seite ist ein Kind abgebildet, darunter steht dessen Name.

„Wir Menschen sind soziale Wesen! Für uns alle ist die Gemeinschaft essentiell, und das von Anfang an.“

Wir bekommen viele positive Rückmeldungen. Die Kinder fangen an zu erzählen, berichten die Eltern. Sie geben wieder, wen und was sie auf dem Bild sehen. Sie erinnern sich an gemeinsame Dinge. All das kommunizieren sie nach ihrem jeweiligen Sprachvermögen. Wir dürfen nicht vergessen: Wir Menschen sind soziale Wesen! Für uns alle ist die Gemeinschaft essentiell, und das von Anfang an. Im gemeinsamen Tun lernen wir, das hat ja Maria Montessori wunderbar erkannt. Es ist wichtig, die Kinder so weit wie möglich in alle Dinge in ihrem Vermögen mit einzubeziehen. Maria Montessori nannte das „Übungen des täglichen Lebens“.

Kannst Du ein paar Beispiele geben, wie Eltern das jetzt zuhause umsetzen können?

Ja, sehr gern. Denn es ist so wichtig, dass Kinder mit den Personen, mit denen sie zusammen sind, auch gemeinsam Dinge erleben. Das ist die ideale Lernsituation. Man kann zum Beispiel gemeinsam Wäsche abnehmen. Dabei kann man die Kleidungsstücke anfassen, ansehen, sie benennen, die Farben bestimmen. In den alltäglichen Tätigkeiten liegen so große Potenziale, wo das Kind sehr viel lernt, wenn es mit eingebunden wird. Gemeinsam kochen und backen. Es steckt so viel Mathematik in dem Vorgang, sich ein Glas Wasser einzuschenken. 

Die meisten Eltern werden mit Sätzen wie „Los, jetzt räum mal Dein Zimmer auf!“, nicht weit kommen. Aber versuchen Sie mal, ihrer Vierjährigen eine Herausforderung anzubieten: „Hey, wie viele Autos kannst Du denn zusammensammeln?“ oder „Suche die rote Puppe und gib sie mir!“ Es empfiehlt sich in den Sprachaufträgen auch Präpositionen oder Adjektive einzubinden. Damit kommt man nicht nur besser voran, die Kleinen lernen auch viel mehr. Aufgaben wie „Stell etwas auf die Kiste!“ oder „Räum das und das unter das Bett!“ sind wertvoll. So kann man Aufräumen quasi spielen und es wird eine schöne, eine gemeinsame Aktion. Diese Situation verankert sich als Lernmoment viel besser im Gehirn, bestätigt die moderne Hirnforschung.

Das klingt ja alles wunderbar. Aber manche Eltern hätten lieber Arbeitsblätter, mit denen ihre Kinder lernen. Macht das Sinn?

Nein, das macht es nicht. Kinder bis sechs Jahren denken bildhaft, anschaulich. Ein Aufgabenblatt ist ein abstrakter Vorgang, der ihrer Art zu Lernen nicht entgegenkommt. Junge Kinder müssen Dinge anschauen, anfassen, in der realen Welt erleben. In der Montessori-Pädagogik gehen wir davon aus, dass diese Kinder sensorische Entdecker sind. Sie be-greifen im wahrsten Sinne des Wortes. Selbst Kinder in den unteren Grundschulklassen begreifen zum Beispiel ein Gewicht eher, wenn sie es fühlen. Das kann man beim Kuchenbacken bestens umsetzen: einfach den Messbecher füllen und hochheben. Eine Tüte Mehl fühlt sich viel schwerer an, als 500g im Messbecher. Das ist eine Art des Lernens, die dem Kind entgegenkommt. Denn es ist mit Sinneserfahrungen und einer Handlung verknüpft und geschieht zusammen mit anderen Menschen.

„Kleine Kinder müssen Dinge anschauen, anfassen, in der realen Welt erleben.“

Aber wenn die Eltern im Homeoffice arbeiten, wie sollen sie das dann leisten?

Dafür gibt es kein Patentrezept. Es ist die Frage, wie ich mir den Tag strukturieren kann, so dass es Zeiten gibt, in denen das Kind allein agiert. Das kann der Mittagsschlaf sein, bei älteren Kindern auch eine Ruhephase oder eine andere Beschäftigung. Es ist die Aufgabe der Erwachsenen, ihr Leben, die Bedürfnisse ihrer Kinder und von sich selbst zu analysieren und daraus ihr einzigartiges Modell zusammenzustellen. 

Wichtig ist in jedem Fall, eine Struktur und tägliche Routine zu etablieren. Die Erwachsenen sind dafür verantwortlich, den gleichen Ablauf jeden Tag, zu denselben Zeiten aufrechtzuerhalten. Das gibt Kindern Sicherheit und den Erwachsenen Freiräume.

„Die Erwachsenen sind dafür verantwortlich, den gleichen Ablauf jeden Tag, zu denselben Zeiten aufrechtzuerhalten.“

Jetzt ist auch die Zeit, Prioritäten zu setzen. Jeder Mutter und jedem Vater eines jungen Kindes sollte bewusst sein, dass sie nicht so viel arbeiten können als hätten sie keine Kinder zuhause. Das sollten übrigens auch die Arbeitgeber berücksichtigen. Viele Eltern stehen unter Leistungsdruck und geben diesen an ihre Kinder weiter. Das führt nur zu Stress und Konflikten. Und es hilft weder dem Kind in der Entwicklung noch der Arbeit der Eltern.

Was kann man also tun?

Gerade jetzt ist es wichtig, seine eigene Haltung als Mutter oder Vater zu überdenken: Warum muss alles immer sofort und ganz schnell gehen? Ist das, was ich für wichtig halte, wirklich gerade so wichtig? Diese Zeit ist auch eine Chance, diese uns zur Gewohnheit gewordene alltägliche Hetzerei in Frage zu stellen. Und junge Kinder sind dafür die besten Lehrmeister. Um mit ihnen zu lernen, müssen wir innehalten. Entschleunigung lautet das Zauberwort. Wir müssen als Eltern zuallererst eine innere Haltung entwickeln, die heißt: „Es darf dauern.“ 

Mir ist bewusst, dass das für die meisten eine Herausforderung ist. Aber nehmen Sie sich die Zeit, mit ihrem dreijährigen die Wäsche zusammenzulegen. Fühlen Sie den Stoff, entdecken Sie die Knöpfe, schauen Sie sich die Farbe genau an. Das hilft ungemein, sich selbst im Hier und Jetzt zu verankern. Und darauf kommt es an. Genau das ist es, was Kinder am besten durch diese Zeit bringt: gemeinsame Erlebnisse mit ihren Eltern. Und zufriedene Kinder schlafen besser ein. Und dann ist abends oder in der Mittagsruhe Zeit für das Homeoffice.

„Entschleunigung lautet das Zauberwort. Wir müssen als Eltern zuallererst eine innere Haltung entwickeln, die heißt: Es darf dauern.“

Und natürlich braucht auch ein junges Kind nicht immer Beschäftigung. Man kann dem Kind zum Beispiel etwas zeigen, das es dann tut. Das kann bei einem 1,5-jährigen Kind einfach eine Dose mit Deckel und ein kleiner Ball sein: Deckel auf, Ball rein, Deckel zu. Das kann man dem Kind vorführen, so tun wir das im Kinderhaus mit unseren Darbietungen. Das Kind beobachtet und macht es dann nach. Mit der Idee kann es sich durchaus einige Zeit auf dem Boden beschäftigen, während man ein paar E-Mails schreibt.

Aber nicht alle Kinder können sich gut allein beschäftigen. Woran liegt das?

Maria Montessori sagte, Kinder sind ein Spiegel für die Erwachsenen. Das heißt, sie zeigen uns jetzt, was wir vorher im Alltag mit ihnen etabliert haben. Wenn es schon vorher Zeiten der Ruhe und der Selbsttätigkeit gab, dann wird das jetzt auch funktionieren. Kinder, die das noch nicht gelernt haben, die ständig bespaßt wurden, wenn sie mit ihren Eltern zusammen waren, werden das nun natürlich ebenfalls einfordern. Hier müssen jetzt neue Sachen erlernt werden, von den Eltern und den Kindern. Das wird eine Weile dauern. 

Eine Ausruhzeit können Kinder ab ungefähr drei Jahren schon gut allein verbringen. Das ist manchmal nur eine halbe Stunde, aber immerhin. Wer nicht schläft, kann sich ein Buch anschauen oder selbst in Ruhe beschäftigen, während der Erwachsene das auch tut. Und danach freut man sich wieder aufeinander und deckt z.B. gemeinsam den Tisch fürs Vesper, wo dann alle wieder zusammenkommen. Auch hier ist Sprache ganz wichtig: „Leg das Messer auf die rechte Seite des Tellers“ ist wesentlich hilfreicher als „Leg mal das Besteck auf den Tisch.“ Das Kind kann in alles mit einbezogen werden. Aber: Es dauert eben länger!

Wie bekommt man denn eine gute Struktur in den Tag?

Es ist ein Zeitraum von ein paar Wochen, der irgendwie strukturiert werden muss, damit es keinen Lagerkoller gibt. Darüber müssen sich die Erwachsenen Gedanken machen. Das ist übrigens nicht nur mit Kindern so. Der Mensch braucht Struktur und Orientierung, das ist ein Grundbedürfnis des Menschen, eine „humane Tendenz“, wie Maria Montessori es nannte. Orientierung und Struktur geben uns Menschen Bezugspunkte und Sicherheit, die wir dringend brauchen. Dann können wir auch loslassen und sind entspannter. Ohne Struktur agieren wir immer im Überlebensmodus. Das ist anstrengend. Und dann sind wir nicht frei.

„Der Mensch braucht Struktur und Orientierung, das ist ein Grundbedürfnis des Menschen, eine „humane Tendenz“, wie Maria Montessori es nannte.“

Es ist empfehlenswert, dass sich alle Erwachsenen, die in der Konstellation verantwortlich sind, zusammen überlegen: Wie strukturieren wir den Tag? Welche festen Zeiten gibt es? Und das müssen sie dann den Kindern kommunizieren. Kindern unter drei Jahren, indem es gelebt wird.  Der Erwachsene ist verantwortlich, diesen Rhythmus zu leben. Und zwar jeden Tag. Mit Kindern über drei kann man Tages- und Wochenpläne basteln, zum Beispiel, indem man Piktogramme benutzt: Ein Ball, der für Sport steht oder ein Pinsel, der das Malen symbolisiert. Dadurch erhalten die Kinder die Möglichkeit, Tätigkeiten zu wählen und diese auch zu planen. Eine Möglichkeit um die Wahl und somit die Partizipation der Kinder sicherzustellen. Nicht der Erwachsene bestimmt in dieser Situation, sondern das Kind hat zwischen drei bis vier Angeboten die Entscheidung zu treffen: Was möchte ich heute tun und in welcher Reihenfolge? Was brauche ich dafür?

Kannst Du der aktuellen Situation auch etwas Positives abgewinnen?

Ja, durchaus. Eltern haben jetzt die einmalige Chance, ihre Kinder intensiv zu erleben. Sie können ihre Kinder beobachten und dadurch wertvolle Rückmeldungen bekommen: Wo steht mein Kind? Welche Rolle nehme ich ein? Es lohnt sich auch zu schauen: Kann mein Kind sich am Tag sicher lösen und auch einen Teil der Zeit für sich sein? Findet es Dinge, die es neugierig machen? Und freut es sich dann wieder auf die gemeinsame Zeit? Wenn dem so ist, dann ist das ein Zeichen für ein gutes Bindungsgefüge, das das Kind durchs Leben tragen wird.

Hast Du eine Empfehlung für Eltern mit jungen Kindern in dieser Zeit?

Nehmt Euch alle Zeit der Welt und lasst die Kinder üben, Dinge allein zu tun. So wie wir es im Kinderhaus jeden Tag machen. Einer meiner Lieblingssätze in der pädagogischen Praxis ist: “Dort wo die Hand des Erwachsenen ist, kann die Hand des Kindes nichts tun!”

Alles, was Ihr jetzt an Zeit investiert, wird sich später auszahlen. Denn dann wird das Kind selbständiger sein, weil es Sicherheit hat und Erfahrungen. Macht Darbietungen und Übungen des praktischen Lebens, indem Ihr mit den Kindern den Alltag lebt! Zeigt eine Handlung, zieht Euch dann zurück und beobachtet. Und wisst: Natürlich klappt es nicht beim ersten Mal. Man muss die Dinge oft zeigen und dann muss das Kind oft üben, manchmal viele Hundert mal: Hose ausziehen, Schleifen binden, Äpfel schneiden. Habt keine Erwartungen in Bezug auf Perfektion in der Ausführung beim Kind, sondern schaut, wie es euer Kind meistert und erfreut euch daran.

„Nehmt Euch alle Zeit der Welt und lasst die Kinder üben, Dinge allein zu tun.“

Spielt Musik, tanzt, singt. Musik hebt die Stimmung. Kramt alte Fingerspiele aus, Reime und Rätsel. In vielen Haushalten sind diese Dinge in Vergessenheit geraten. Man kann sie wiederentdecken und damit Spaß haben, sich auch als Eltern damit wieder einfangen, wenn man unruhig wird. 

Schaut Bilderbücher an und erzählt! Nehmt Euch die Zeit für eine Gute-Nacht-Geschichte und ein Ritual, jeden Abend.

Oder sucht fünf Gegenstände raus und spinnt zusammen mit Euren Kindern Geschichten. Und vergesst nicht, die Aufnahme-Taste auf Eurem Handy zu drücken, wenn die Kinder selbst ins Erzählen kommen. Das sind Schätze, die Euch und Eure Kinder noch nach Jahren erfreuen werden.

Wir werden nach diesen Wochen im Kreis der Familie und den eigenen vier Wänden wieder genügend Druck in der Außenwelt haben. Jetzt ist es an der Zeit, innezuhalten, sich am Kind zu erfreuen, Kraft zu sammeln und ein neues Miteinander zu etablieren.

Vielen Dank für das Gespräch.