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Lisa und Katharina betreiben einen der erfolgreichsten Elternblogs des Landes: "Stadt Land Mama". Nun hatten sie Fragen zur Montessori-Pädagogik und haben sie uns gestellt. / Foto: Christoph Michaelis

Interview mit stadtlandmama.de: Warum kein Kind unbeschulbar und Vor-Sich-Hin-Träumen wichtig ist

Mit freundlicher Genehmigung von stadtlandmama.de dürfen wir die Fragen und Antworten ebenfalls veröffentlichen. Den kompletten Beitrag gibt es hier.

Lieber Herr Grune, nehmen wir mal an, es hat sich noch nie jemand mit Montessori beschäftigt – wie würden Sie ihm die Pädagogik in fünf Botschaften zusammenfassen? 

1. Hilf mir, es selbst zu tun, es selbst zu denken, es selbst zu werden!

Montessori-Pädagogik betrachtet das Kind in drei Entwicklungsstufen: ‚Hilf mir es selbst zu tun!‘ beschreibt die erste und wichtigste Entwicklungsaufgabe bei Kindern im Alter von 0-6 Jahren. Hier werden die Grundlagen gelegt. Zunächst kleine, dann immer größere Dinge des Alltags selbst zu tun, bereitet darauf vor, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst und dann auch für andere. In der zweiten Entwicklungsphase, im Alter von 6-12 Jahren, sieht die Montessori-Pädagogik vor, Kindern das Handwerkszeug mitzugeben, eigenständig zu denken und die Welt als einen Kosmos, in dem alles mit einander in Verbindung steht, zu begreifen. Deshalb gibt es an Montessori-Grundschulen keine Fächer, sondern Freiarbeit als wesentliche Unterrichtsmethode. In der darauf folgenden dritten Entwicklungsstufe, der Jugendlichen von 12-18 Jahren, fokussiert die Montessori-Pädagogik darauf, dass die jungen Menschen ihren eigenen Platz in der Gesellschaft finden, bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, eine friedliche Gesellschaft aktiv mit zu entwickeln und zu gestalten.

2. Entwicklung der Persönlichkeit statt Konkurrenz mit anderen

An Montessori-Schulen gibt es keine Noten. Stattdessen dokumentieren Entwicklungsberichte, Selbsteinschätzungen und Zeugnisgespräche den Lernstand eines jeden Schülers. Dabei spielt nicht nur das erworbene Fachwissen eine Rolle. Auch soziale Kompetenzen, das Verhalten in der Gemeinschaft und die gewählten Formen des Lernens werden aufgezeichnet und ausgewertet. So entstehen Portfolios der persönlichen Entwicklung, die weit aussagekräftiger sind als eine Ziffer. Ein Schüler ist dann gut, wenn er im Lernen weiterkommt, verglichen mit sich selbst.

3. Die Verantwortung wächst mit

Kinder üben von Anfang an, Verantwortung für sich und die Gemeinschaft zu übernehmen. Was im Kinderhaus mit alleine anziehen und den Tisch decken beginnt, setzt sich in der Grundschule mit selbst erstellten Tagesplänen und Diensten für die Klasse fort. Jugendliche verdienen Geld für Klassenfahrten, organisieren Praktika und führen eigenständig einen Betrieb. Wenn sie die Schule verlassen, sind sein der Lage, ihr Leben eigenständig zu meistern und haben dabei immer auch die Gesellschaft in der sie leben im Blick.

4. Freiheit innerhalb klarer Grenzen einer vorbereiten Umgebung

Freiheit ist die Grundlage der Entwicklung. Innerhalb eines klaren Rahmens und einer festen Struktur, der ‚vorbereiteten Umgebung‘, bestimmen die Kinder selbst, was sie wann und wie lernen. Pädagogen stehen ihnen dabei als Lotsen, für Fragen und zur Inspiration zur Seite. Der Freiraum und der Radius der vorbereiteten Umgebung wächst mit den Kindern.

5. Erziehung zum Frieden

Maria Montessori war der Überzeugung: “Konflikte zu vermeiden, ist Aufgabe der Politik, den Frieden aufzubauen ist Aufgabe der Erziehung.“ Frieden ist das eigentliche Ziel ihrer pädagogischen Bemühungen. Das Anliegen der Montessori-Pädagogik ist es, in den Kindern ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass alles miteinander zusammenhängt, voneinander abhängig und aufeinander angewiesen ist. Das ist der Grundstein dafür, die eigene Verantwortung für das Ganze zu erkennen und zu übernehmen. Montessori nannte das: Kosmische Erziehung.

Montessori-Pädagogik ist ein Schlüssel, der Kindern und Jugendlichen das Tor in eine selbstbestimmte, friedliche Zukunft eröffnet. Sie kann aus kleinen Menschen voller Neugier und Tatendrang große Menschen wachsen lassen, die sich diese Neugier bewahren und ihren Tatendrang im besten Sinne für sich selbst, die Gemeinschaft und das friedliche Miteinander einsetzen; die Vertrauen haben in sich und die Dinge.

Können Sie sagen, für welche Kinder Montessori-Schulen besonders geeignet sind? Und gibt es auch Kinder, für die sich andere Schulen besser eignen?

Montessori-Schulen sind grundsätzlich für alle Kinder geeignet. Denn jedes Kind wird neugierig geboren und möchte unbedingt die Welt mit allen Sinnen erfahren. Es entdeckt voller Tatendrang alles um sich herum, es lernt wie von selbst laufen und sprechen, durch Beobachtung, Erfahrung und Nachahmung. Die Eltern behalten es im Blick, passen auf, dass es sich keinen Gefahren aussetzt, geben Hilfestellungen. Das ist genau die Art des Lernens, die Montessori-Pädagogik aufgreift und fortführt: selbstbestimmt die Welt erfahren, innerhalb eines geschützten Rahmens, der sich nach und nach weitet. Das ist die natürliche Form des Lernens. Manche bezeichnen sie auch als „kindgerecht“ – und damit passt sie zum Wesen des Kindes, jeden Kindes.

Wenn jedoch die Erziehungspartnerschaft zwischen Eltern und Schule nicht funktioniert, kann eine Montessori-Schule nicht die richtige Schule sein. Das ist der Fall, wenn Eltern kein Vertrauen in das eigene Kind, seinen Wunsch zu Entdecken und seine Fähigkeit zu Lernen haben. Diese Eltern haben Angst und meinen, jemand müsse dem Kind ständig sagen, was es wie machen muss, damit es eines Tages im Leben zurecht kommt. Solche Eltern erfinden dann Hausaufgaben, die es in der Montessori-Pädagogik nicht gibt. Sie machen Druck, den die Schule vermeidet. Und sie nehmen den Kindern mit ihrer Einstellung die Freude am Entdecken der Welt, gefährden sein Selbstvertrauen. Unter diesen Umständen macht eine Montessori-Schule wenig Sinn. Leider.

Die Freiarbeit ist ja ein wesentlicher Bestandteil – viele Eltern haben die Befürchtung, ihr Kind könnte aber in dieser Zeit nur vor sich hinträumen oder gar nicht lernen, weil ihm die Selbstmotivation fehlt – können Sie diese Befürchtung entkräften?

Natürlich. Denn der Mensch lernt eigentlich immer, das zeigt die moderne Hirnforschung. Gerade im Vor-Uns-Hinträumen haben wir Erkenntnisse und kommen uns Einfälle, für die in Tagen voller Pflichten niemals Platz ist. Gut, wenn dafür auch mal Platz ist. Um Ihre Frage zu beantworten, müssen wir uns also erst einmal fragen: Was ist lernen? Wenn wir unter lernen das Auswendiglernen von Fakten aus einem Lehrbuch verstehen, dann kann es in der Freiarbeit tatsächlich zu Zeiten des „Nicht-Lernens“ kommen. Doch diese Definition des Lernens ist falsch. Denn wir lernen vor allem durch Erfahrungen und Begreifen – im wörtlichen Sinne in den frühen Jahren, im übertragenden Sinn in den späteren.

Eine Pädagogin berichtete mal von einem Jungen in der zweiten Klasse, der den ganzen Tag nur an einem bestimmten Ort im Klassenraum saß und augenscheinlich nichts tat. Die Pädagogin überlegte zusammen mit ihrem Team, ob und wann sie eingreifen, den Jungen ermutigen sollte, etwas zu tun. Sie entschieden, erst einmal abzuwarten. Am nächsten Tag dasselbe: Der Junge saß dort und ging keiner erkennbaren Beschäftigung nach, während seine Mitschülerinnen und Mitschüler eifrig an ihren Themen und Projekten arbeiteten. Am Nachmittag ging die Kollegin zu ihm und fragte, was er mache. Er antwortete, dass er seit gestern zwei seiner Mitschüler beobachtete, die an einem Mathematik-Material beschäftigt waren und versuchten, immer schwierigere Aufgaben zu lösen. Er selbst hatte das Prinzip durch Beobachtung schnell verstanden und wartete nun mit Freude darauf, dass seine Mitschüler zu den richtigen Ergebnissen kamen. Würden Sie sagen, dass dieser Junge in den beiden Tagen nichts gelernt hat?

Wie gesagt, Kinder sind von Natur aus neugierig und wollen lernen. In einem Montessori-Lernraum finden sie zahlreiche Anregungen: In den thematisch organisierten Regalen warten Materialien, die die Kinder einladen, sich mit ihnen zu beschäftigen. Es gibt Mitschüler, die experimentieren, spannende Bücher lesen oder einen Vortrag proben. Und es gibt Einführungen von Pädagogen, die Lust machen, sich etwas Neues anzueignen. Und sollte das noch immer nicht genug sein, gibt es die Bibliothek, das Grüne Klassenzimmer oder den angrenzenden Wald. Auch außerschulische Lernorte sind fester Bestandteil der Pädagogik.

Jedes Kind hat regelmäßig Planungsgespräche, in denen es mit Pädagogen seine nächsten Lernziele festlegt. An der Freien Montessori Schule Berlin schreiben Grundschüler jeden Morgen in ihr Lerntagebuch, was sie machen wollen – und am Nachmittag reflektieren sie, was sie geschafft haben, warum oder warum nicht und wie zufrieden sie mit sich sind. An Montessori-Schulen lernen Kinder in jeder Minute. Sie lernen anders als an Regelschulen, und meist wesentlich mehr als das, was im Lehrplan steht.

Die Klassen sind ja stets jahrgangsübergreifend – welche Vorteile hat das?

Eine Jahrgangsmischung hat den ganz entscheidenden Vorteil, dass die Kinder sich in verschiedenen Rollen erleben und ausprobieren können, denen sie auch im Leben ständig begegnen. Denn niemand von uns ist nur mit Gleichaltrigen zusammen. Altershomogenität gibt es eigentlich nicht. In Montessori-Lerngruppen finden sich deswegen immer drei Jahrgänge zusammen. Erst gehört man zu den jüngsten, denen geholfen wird, die sich erstmal orientieren müssen. Dann zu den mittleren, die schon mal helfen können, aber noch nicht ganz in der Verantwortung stehen, Und dann sind sie plötzlich die „Großen“ und zeigen den Kleinen, was hier wie läuft. Und dann geht das Ganze wieder von vorne los. Jahrgangsmischung schult Gemeinschaftssinn und gibt immer wieder Anlass zum Überprüfen der eigenen Rolle – und Chancen aus ihr auszubrechen.

Jahrgangsmischung vermindert auch die Konkurrenz unter den Kindern. Denn Altershomogenität erzeugt die Illusion von Vergleichbarkeit. Dabei ist es Unsinn, lediglich aus dem Geburtsjahr abzuleiten, was ein Kind wann können sollte. Das sieht man ja schon bei den ganz Kleinen: Während ein Kind schon nach acht Monaten läuft, macht es ein anderes erst mit 1,5 Jahren. In der Jahrgangsmischung kann jedes Kind in seinem Tempo lernen und sich die Inhalte über mindestens drei Jahre selbst einteilen. Warum nicht erstmal in Mathe voran preschen, wenn es einem gerade sehr viel Spaß macht?

Welche Eigenschaften der Kinder werden bei Montessori besonders gefördert?

Montessori-Pädagogik fördert Eigensinn und Verantwortungsbewusstsein, Kreativität, Begeisterungsfähigkeit und Mitgefühl. Die Kinder entwickeln einen Sinn für sich, der immer auch die Gemeinschaft im Blick hat, in der sie leben. Sie lernen selbständig zu denken, zu handeln und für ihre Interessen einzustehen. Wer möchte, dass Kinder tun, was er sagt, ist hier falsch. Wer hingegen den lebendigen Austausch mit Kindern schätzt, die kreativ sind und kritisch denken, wird seine wahre Freude haben.

Nach dem Montessori Prinzip lernt jedes Kind in seinem Tempo – ist es da nicht so, dass das Niveau dann innerhalb einer Klasse sehr weit auseinander klafft?

Wenn Sie meinen, dass alle Kinder zu selben Zeit das gleiche können müssen, wird dieses „Niveau“ natürlich sehr unterschiedlich sein – und zwar in jeder Klasse. Das spiegeln ja die Noten an Regelschulen. Auch hier möchte ich wieder fragen: Was ist der Maßstab: ein fiktiver Durchschnitt oder das einzelne Kind? Wie gesagt, für uns ist ein Schüler dann gut, wenn er im Lernen weiterkommt – verglichen mit sich selbst. Und da ist das Niveau grundsätzlich gleich hoch. Maria Montessori hat es so formuliert: „Der Weg, den die Schwachen gehen, um sich zu stärken, ist der gleiche, den die Starken gehen, um sich zu vervollkommnen.“

Warum glauben Sie, haben viele Eltern das Vertrauen in das „normale“ Schulsystem verloren?

Weil sie merken, dass dieses System nicht mehr zeitgemäß ist. Das klassische System wurde im 19. Jahrhundert entwickelt, die Gliederung in verschiedene Schulformen folgte einer militärischen Ordnung und bildete Gesellschaftsschichten ab. Wir leben inzwischen im 21. Jahrhundert, das ganz neue Anforderungen an den Menschen stellt. Alles hat sich weiterentwickelt.

Heute gibt es Autos und Handys und Computer. Fließbandarbeit gibt es kaum noch, stattdessen Jobs, in denen Menschen kreativ sind und selbständig denken. Das System Schule hat sich jedoch kaum verändert. Es bereitet Kinder nach wie vor mit Belohnung oder Bestrafung darauf vor, das zu tun, was andere von ihnen verlangen. Nur, dass uns niemand mehr sagen kann, was Kinder eigentlich brauchen und können müssen. Junge Menschen müssen sich heute in einer hoch komplexen Welt zurecht finden. Und der einzige Ankerpunkt, den die haben, sind sie selbst und die Gemeinschaft, in die sie eingebunden sind. Ich denke, dass Eltern, die diesem Schulsystem den Rücken kehren, verstanden haben, dass Schule anders sein muss, damit ihre Kinder in dieser Welt zufrieden leben können.

Heute hört man ja immer öfter von Kindern, die als nicht beschulbar gelten – glauben Sie, dass es sowas überhaupt gibt?

Ich glaube, dass das herkömmliche System Schule den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen nicht gerecht wird. Deswegen gibt es so viele Schulverweigerer bzw. junge Menschen, die als nicht beschulbar gelten. Schule muss sich dringend ändern. Wenn Schulen lebendige Orte werden, an denen Kinder und Jugendliche das Gefühl haben, bedeutsam zu sein, gesehen zu werden und sie selbst sein zu können, die Welt entdecken und sich frei entfalten dürfen – dann, da bin ich mir sicher, wird sich dieses Problem in Luft auflösen. Aus der Montessori-Pädagogik könnte man sich da einiges abschauen.

Sind die Lehrer auf Montessori-Schulen speziell ausgebildet?

An Montessori-Schulen arbeiten ausgebildete Lehrkräfte und ErzieherInnen, überwiegend auf Basis eines Studiums und einer fundierten pädagogische Ausbildung. Auch einige Experten und lebenserfahrene Menschen finden ihren Weg zur pädagogischen Arbeit an Montessori-Schulen, zum Beispiel Musiker, Sportler, Künstler oder Wissenschaftler. Sie sind mit ihren Erfahrungen und ihrer Begeisterung eine Bereicherung und Inspiration für die Kinder.

Voraussetzung für die Arbeit an Montessori-Schulen ist für alle eine zusätzliche Qualifikation in der Montessori-Pädagogik, das sogenannte ‚Montessori-Diplom‘. Dafür gibt es mehrjährige, intensive Kursformate zur beruflichen Weiterbildung und Qualifizierung. Sie orientieren sich in Deutschland an den Ausbildungsangeboten und Richtlinien der Deutschen Montessori Gesellschaft (DMG), international an denen der Association Montessori Internationale (AMI). Pädagogen an Montessori-Schulen haben die Auflage, eine solche Qualifikation vorzuweisen oder berufsbegleitend zu erreichen. Wir als Schulträger unterstützen das, indem wir selbst DMG-zertifizierte Aus- und Weiterbildungen anbieten.