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Foto: Jörg Kretschmann/ Montessori Stiftung Berlin

Verantwortung statt Frust – Warum Farmschools eine Alternative zum Klassenzimmer sind

Jugendliche und Schule wie wir sie kennen – das passt nicht zusammen. Was Neurowissenschaften in den letzten Jahren belegen, war Maria Montessori vor 100 Jahren schon klar, als sie Heranwachsende beobachtete. In ihrem „Erdkinderplan“ beschrieb sie ihre Beobachtungen, die heute aktueller sind denn je. Und sie entwickelte das Konzept eines Lernortes für Menschen zwischen 12 und 15 Jahren, das heute Vorbild für zahlreiche Projekte auf der ganzen Welt ist: Jugendschulen bzw. Farmschools (engl.)

Fast immer, wenn in den Medien von Schwierigkeiten zwischen Lehrern und Schülern berichtet wird, handelt es sich um Probleme mit Heranwachsenden. Die 12- bis 15-Jährigen sind mit anderen Dingen beschäftigt, wenn eine Lehrperson an der Tafel über Karl den Großen, Strahlensätze oder  Fotosynthese referiert: Wer war mit wem am Wochenende unterwegs? Welches Video auf YouTube ist gerade angesagt? Herzklopfen beim Anblick des neuen Mitschülers. Auch der Klassenchat auf WhatsApp ist wesentlich spannender als der Lehrstoff. Das sorgt für Frust auf beiden Seiten. Und dabei ist es ganz natürlich, weiß die Neurowissenschaft, denn das Gehirn verändert sich in dieser Zeit ständig. „Wenn irgendetwas nicht zusammenpasst, dann ist es Pubertät und Schule“, erklärt Barbara Sichtermann. In ihrem Buch Frühlingserwachen beschreibt die Publizistin, was mit den jungen Menschen passiert, die auf der Suche nach ihrer Identität sind. „Sie ertragen es einfach nicht mehr, kollektiviert, eingeteilt, zusammengeschweißt, dirigiert, verwaltet, hier- und dorthin geschickt, in ihren Leistungen und in ihrem Ausdruck quantifiziert und benotet zu werden.“ Aber was brauchen die jungen Menschen in dieser Phase ihrer Entwicklung?

„Zeit des Aufbruchs“

Zwei Bedürfnisse der Jugendlichen sind in dieser Altersgruppe zentral, werden jedoch in der normalen Schule nicht abgedeckt: das Bedürfnis, in dieser empfindlichen Phase beschützt zu sein, und das Bedürfnis, die eigene Rolle innerhalb der Gesellschaft zu ergründen und zu gestalten. Diese Erkenntnisse sind nicht neu. Sie stammen unter anderen von der italienischen Ärztin und Pädagogin Dr. Maria Montessori, die in den 1920er Jahren anfing, Jugendliche durch Beobachtung genauestens zu studieren. Die moderne Hirnforschung bestätigt sie. Maria Montessori nannte die Pubertät „Zeit des Aufbruchs“ und beschreibt damit die wesentlichen Entwicklungsschritte in der Pubertät: das Loslassen, Losgehen, die Ablösung vom Elternhaus und das Hervortreten von Gedanken, Gefühlen und Körperzellen, denen der Platz innerhalb bestimmter Grenzen zu klein geworden ist. Unter Einbeziehung der Erfahrungen deutscher Reformpädagogen wie Hermann Lietz entwickelte Montessori den Erdkinderplan, ein Konzept der „Entschulung des Lernens“ in der Pubertät.

„Jugendliche brauchen eine Schule, die keine Schule ist.“ Maria Montessori

Die Entschulung des Lernens in der Pubertät

Der Erdkinderplan stellt den Jugendlichen einen Erfahrungsraum zur Verfügung, innerhalb dessen sie beschützt sind und sich ausprobieren können. „Während dieser schwierigen Periode der Reifezeit ist es wünschenswert, das Kind fern von seinem gewohnten Milieu, seiner Familie, auf dem Lande leben zu lassen, in einer ruhigen Umgebung, im Schoße der Natur“, resümierte Dr. Maria Montessori 1935. Dort sollen Jugendlichen eigenverantwortlich drei Einrichtungen führen: einen Bauernhof, ein Geschäft und ein Gasthaus. So erfahren sie grundlegende Situationen des sozialen Lebens und entwickeln eigene Aktivitäten, die für die Gemeinschaft von Bedeutung sind, ergänzt durch einen Studien- und Arbeitsplan mit theoretischen Inhalten. Allgemeine Lerninhalte werden durch praktische Erfahrungen in Produktion, Verwaltung und Dienstleistung greifbar und erfüllen so das zunehmende Bedürfnis der Jugendlichen nach mehr Unabhängigkeit. Montessoris Konzept ist heute Vorbild für zahlreiche Projekte auf der ganzen Welt. Und es geht auf.

Erfahrungsschulen des sozialen Lebens

„Wenn Jugendliche eine Umgebung haben, die ihren Entwicklungsbedürfnissen entspricht, spielen die typischen Abwegigkeiten eigentlich keine Rolle mehr“, sagt Pädagogin und Familientherapeutin Laura Behrens. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Montessori-Pädagogin für die Entwicklungsstufe der 12- bis 15-Jährigen in den USA,  verbrachte Zeit an der Hersheys Farm School in Ohio (USA) und an der Farmschool der Montessori Schule Varberg in Schweden. Dort werden die Ideen von Maria Montessori konsequent umgesetzt. Anstatt im Klassenraum zu sitzen und sich zu langweilen, erfahren die jungen Menschen an Farmschools (oder auch: Jugendschulen), dass nichts erntet, wer nichts sät. Sie probieren sich aus, können mit körperlicher Arbeit auch ihre physischen Grenzen ausloten. Sie erleben, wie es ist, fremde Menschen freundlich zu empfangen und in großen Zusammenhängen den Überblick zu bewahren – und welche Konsequenzen es hat, weniger genau, achtsam oder organisiert zu sein. Sie lernen, mit Fehlern umzugehen und das Beste aus den Situationen zu machen. Immer geht es dabei um Kommunikation und die Übernahme der eigenen Verantwortung.  So entstehen Mut und Selbstvertrauen.

„Die Jugendlichen, die hier einen längeren Zeitraum verbracht haben, sind verbunden mit allem“, berichtet die Pädagogin. „Sie erkennen, dass ihre Aufgabe im Leben und in der Gesellschaft eine wirklich wichtige ist. Wenn sie sich für einen Beruf entscheiden, tun sie das immer im Hinblick auf ihren Beitrag zur Gesellschaft. Sie wissen, dass jede Handlung und jede Entscheidung einen Einfluss auf ihre direkte und auf ihre weitere Umgebung hat.“

Famschools bzw. Jugendschulen in Deutschland

Auch in Deutschland tut sich etwas. Auf dem 17. Montessori Europe Kongress, der Anfang Oktober 2016 in Berlin stattfand, waren Verantwortung und das Lernen ab Klasse 7 Hauptthemen, die Foren dazu überfüllt. Die Teilnehmenden diskutierten über die Auslegung von Montessoris Erdkinderplan in der heutigen Zeit: Braucht es die Landwirtschaft oder geht es auch in einer urbanen Umgebung? Soll das Angebot verpflichtend oder freiwillig sein? Reicht ein Tag in der Woche oder braucht es einen längeren Zeitraum? Einig waren sich alle darin, dass junge Menschen in der Pubertät raus aus der Schule und rein ins Leben müssen. Und eine Frage steht ganz klar im Mittelpunkt: Wie lässt sich ein Leben, Lernen und Wirken auf dem Land im Alter von 12-15 Jahren mit dem deutschen Schulsystem vereinbaren?

Eine Arbeitsgruppe der Deutschen Montessori Gesellschaft (DMG) hat sich dem Thema angenommen und vernetzt seitdem die Aktivitäten in ganz Deutschland. Ab 2018 werden Pädagogen für die Begleitung von Heranwachsenden an Jugendschulen aus- und weitergebildet.

Beispiele für Jugendschulprojekte in Deutschland

Jugendschule am Schlänitzsee (Brandenburg)

Die Staatliche Montessorischule Potsdam hatte das Glück, einen Landwirt zu treffen, der mit Leidenschaft sein Wissen mit Heranwachsenden teilt. Und sie hat eine Schulleiterin, deren Überzeugung „Einfach machen!“ über so manche Durststrecke hinwegträgt. Seit 2007 schaffen die Potsdamer Jugendlichen auf einem heruntergekommenen Gelände, einer ehemaligen Stasi-Ferienstätte, ihren Ort jenseits des Klassenzimmers. Der Landwirt und die Pädagogen unterstützen sie dabei. „Die Schule als Raum ist zu klein“, fasst Schulleiterin Ulrike Kegler ihre Erkenntnis der letzten neun Jahre zusammen. „In dem Alter gibt es einen großen Willen, Dinge zu machen, die größer sind als nur eine Arbeit zu schreiben oder ein Vogelhaus zu bauen.“ Deswegen fahren alle Siebt- und Achtklässler bei jedem Wetter raus an den Schlänitzsee. „Entscheidend ist, dass die Jugendlichen aus Notwenigkeiten und Zusammenhängen lernen und nicht aus einem für sie künstlichen Lehrplan.“
Kontakt und weitere Informationen: www.potsdam-montessori.de

Jugendschule Strausberg (bei Berlin)

Seit 2008 fahren Schülerinnen und Schüler der Freien Montessori Schule Berlin regelmäßig auf das Gelände der Jugendschule Strausberg am nordöstlichen Berliner Stadtrand. Hier ist der Besuch der Jugendschule freiwillig. Auf dem 2,66 Hektar großen Gelände, das einst der Kirche gehörte, stehen drei große marode Gebäude. Es gibt Obstwiesen, eine kleines Wäldchen und einen Teich. Eine Sommerküche, ein Lehmofen, ein Gewächshaus und eine Bienenzucht wurden eingerichtet. Im Herbst werden Äpfel geerntet und verarbeitet. Die Produkte wie Apfelsaft, Marmelade und Honig gibt es dann auf Veranstaltungen der Schule zu kaufen. Im November 2016 beschloss die Montessori Stiftung Berlin, das Projekt Jugendschule  Strausberg als festes Angebot für die Sekundarstufe der Freien Montessori Schule Berlin auszubauen. Das erste Haus feierte im Mai 2019 Richtfest. 2020 soll das Residenzprogramm starten. Weitere Informationen: Jugendschule Strausberg

Montessori School Farm Deutschland (Bayern)

Laura Behrens hat 2014 ihr eigenes Projekt ins Leben gerufen: die Montessori School Farm Deutschland. Inzwischen gibt es einen Hof in Kempten im Allgäu, inklusive Wohnhaus und Gerätschaften. Es fehlt, wie immer, an Geld, aber sie ist mit Investoren im Gespräch. Die Universität Passau begleitet das Projekt wissenschaftlich und berät zur Gestaltung der Lerninhalte. „Wir wollen alle Komponenten des Erdkinderplans umsetzen“, erklärt Laura Behrens. „Jugendliche sollen hier über einen längeren Zeitraum zusammen leben und arbeiten.“ Nicht nur die Montessori-Schulen in der Umgebung freuen sich auf die Eröffnung der Farmschool, auch aus Hannover und Göttingen gibt es schon Interessenten. Kontakt und weitere Informationen: www.montessori-schoolfarm.de

Projekt Jugendschule des Montessori Zentrums Hofheim (Hessen)

„Jugendliche verfügen über unendlich viel Energie und wissen gar nicht, wohin damit“, weiß der Pädagoge Sven Burger, der Heranwachsende am Montessori Zentrum in Hofheim seit Jahren begleitet. „Früher haben die Leute mit 14 Jahren angefangen zu arbeiten und hatten wirklich Aufgaben. Heute können sie vielleicht mal eine Zeitung austragen. Und so verbringen die Jugendlichen ihre Zeit am Computer und auf WhatsApp.“ Deswegen ist Sven Burger nun Leiter des Projekts „Jugendschule“, hat eine entsprechende Ausbildung absolviert und sucht gerade nach einem geeigneten Gelände. „Unser Ziel ist es, 2018 die Jugendschule an einem externen Standort zu eröffenen; ein Bauernhof, auf dem die Jugendlichen fünf Tage in die Woche sind und ihn zusammen mit Farmern und Pädagogen verantwortlich führen. Wir wollen mit einer Gruppe von Freiwilligen starten.“
Kontakt und weitere Informationen: www.montessori-hofheim.de

Verantwortung lernen braucht Vertrauen

Jugendschulen sind elternfreie Zonen, doch das Verständnis und die Unterstützung der Erziehungsberechtigten sind notwendig. An den Jugendschulen wird anders gelernt als es die allermeisten Eltern kennen. Und so haben viele Angst, dass ihr Kind etwas verpasst. Dabei ist das, was sie hier anhand von selbst verantworteten Projekten praktisch lernen, so wertvoll für ihr weiteres Leben. „Der praktische Bezug hat das Lernen für mich grundlegend verändert“, erzählt der heute 20-Jährige Berliner Florian Behnke. „Ich habe in der siebten und achten Klasse viel Zeit in der Jugendschule Strausberg verbracht, als meine Mitschüler ihren Stoff abarbeiteten. Hätte mir damals jemand eine Mathe-Aufgabe gestellt, hätte ich mich gefragt, was das soll. Aber nach der Zeit in Strausbgerg machte es plötzlich Sinn, ein x und y auszurechnen, weil ich wusste, wozu ich das brauche.“  Florian hat inzwischen sein Abitur in der Tasche.

„Wir sind gefragt“, sagte ein Vater bei einer Veranstaltung über Jugendschulen in Berlin-Köpenick. „Wir dürfen nicht ständig nach Leistungen fragen, sondern müssen unserem Kind vertrauen, ihm etwas zutrauen.“

Die Montessori Stiftung Berlin bietet ab April 2018 eine Seminarreihe zum Thema Jugendschule/Erdkinderplan an. Sie ist von der Deutschen Montessori-Gesellschaft zertifiziert. Die verantwortlichen Dozentinnen sind Laura Behrens und Dr. Ela Eckert. Weitere Informationen finden Sie hier.